„Wiederholung und Vervielfältigung, zwei einfache Worte. (...) Alles, was wir lieben, lernen, ordnen, erkennen und akzeptieren, ist diesen beiden zu verdanken.“
Maurits Cornelis Escher
Inbegriff des menschlichen Urbedürfnisses, sich und die von ihm produzierten Gegenstände zu schmücken, zieht sich das Ornament durch die gesamte Kulturgeschichte des Menschen. Aus dem lateinischen Wort ‚ornamentare’ für ‚schmücken’ abgeleitet, wird das Ornament als ein zur dekorativen Oberflächengestaltung verwendetes Muster auf einem Grund definiert. Seine Gestaltung basiert grundsätzlich auf der seriellen Wiederholung eines symmetrisch und gereiht oder alternierend über die Fläche verteilten, geometrischen oder organisch-naturalistischen Elements.ii
Eine solche repetitive Gestaltung wurde und wird nicht zuletzt als schön empfunden, weil sie dem Streben der menschlichen Wahrnehmung nach Übersicht und Einordung entgegen kommt. Zugleich war das Ornament stets als eine gesellschaftlich wirksame Chiffre lesbar, als Ausdruck der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder der Position innerhalb dieser. Entsprechend früh verband es sich mit der Anfertigung von lebensnotwendigen Gebrauchsgegenständen wie vor allem Gefäßen und Textilien. Auch die gemeinsame Ableitung der Begriffe ‚Textil’, ‚Textur’ und ‚Text’ aus dem lateinischen Wort ;textura’ für Gewebe und ‚texere’ für ‚weben’, ‚flechten’ verweist auf die strukturelle Nähe von Textilherstellung und Rhetorik bzw. Schriftkultur. So sind im textilen Gewebe wie im Text in seiner ursprünglichen Bedeutung als ‚Gewebe der Rede’ Schönheit und Aussage miteinander verflochten, je kunstvoller, desto wirksamer. Die Bekleidungsmode wiederum liefert bis heute nicht nur den Subtext gesellschaftlichen Zusammenlebens, sondern formt und prägt seinen jeweiligen Wandel entscheidend mit.i Nicht zuletzt wird Ornamenten und insbesondere textilen in der westlichen Kunstgeschichte die Rolle der ‚Geburtshelfer’ bei der Entstehung der abstrakten Kunst in den Jahren vor dem Ausbruch des ersten Weltkriegs zugeschrieben.ii Mit der Konzentration auf geometrische Formen und ihre Vereinzelung, wie sie der Konstruktivismus pflegte und die konkrete Kunst nach primär mathematischen Regeln weiter entwickelte, wurde dann die enge Verbindung zum Dekorativen in den Hintergrund gedrängt. Erst die kunsttheoretischen Fragestellungen von Vertretern der amerikanischen Conceptual und Minimal Art wie Sol Lewitt Ende der 1970er und dann vor allem in den 1980er Jahren von Künstler/innen wie Richard Artschwager, Philip Taaffe oder Rosemarie Trockel setzten einen neuen, vorurteilsfreieren Umgang mit dem Ornament und seiner „Fähigkeit, Sinn zu bergen“iii in Gang.
Die Werkgruppe der mit dem französischen Wort für Falte als Pli betitelten Bilder, die inzwischen seit mehr als anderthalb Jahrzehnten im Zentrum des künstlerischen Schaffens von Barbara Rosengarth steht, gründet in einer textilen Faszination, die weit zurück reicht in ihrer Biografie. Aufgewachsen mit einer professionell schneidernden Großmutter und einer Mutter, die sich Näh- und Strickarbeiten gerne und oft widmete, waren textile Materialien und der Umgang mit ihnen ein ebenso selbstverständlicher wie positiv besetzter Bestandteil ihrer Kindheit und Jugend. Als sie sich später, gegen Ende ihres Kunststudiums, die Frage stellte, was denn ihr Thema sein könnte, sein müsste, an dem sich ihr ureigener künstlerischer Ausdruckswille immer wieder von Neuem zu entzünden vermöchte, war die Antwort bald gefunden. Doch bedurfte es ein ausgeprägtes Maß an Geduld, Beharrlichkeit und Selbstvertrauen, zumal die künstlerische Beschäftigung mit Textilien nicht wirklich ernst genommen wurde. Die Vorurteile dieser gegenüber blieben bis in die 1980er Jahre und über diese hinaus weitgehend unhinterfragt. So musste nach vereinzelten Versuchen einer Neubewertung des Ornamentalen in der Kunst mehr als ein Vierteljahrhundert vergehen, bis eine unvoreingenommene Sicht auf den künstlerischen Umgang mit textilen Materialien so selbstverständlich wurde, wie sie es heute überwiegend ist. Entsprechend lange dauerte es, bis die Werke von Pionierinnen wie Sophie Taeuber-Arp und Anni Albers uneingeschränkte Anerkennung fanden.
Um Ihrem Selbstverständnis als Malerin und Zeichnerin ebenso gerecht werden zu können wie ihrer textilen Leidenschaft, begann Barbara Rosengarth, Kleidungsstücke zum Sujet ihrer Malerei zu machen. Bei der Wahl gab nicht ein modischer Aspekt den Ausschlag. Vielmehr ließ sie sich ganz subjektiv von der Ausstrahlung eines Kleidungsstücks, der Schönheit des Stoffes und seiner textilen Eigenschaften verführen. Sie inszenierte ihr Modell, drapierte es zu einem Körper und übertrug die jeweilige Oberflächenbeschaffenheit des textilen Materials so präzise und realistisch wie möglich in Malerei. Dann reduzierte sie die Farben bis zur Monochromie, so dass sich ein beispielsweise weißes Kleidungsstück nur durch seine textile Struktur vom weißen Bildgrund abhob. In einem nächsten Schritt wandte sie sich der genauen Wiedergabe von Vorhängen beziehungsweise von Vorhangfalten zu. Das wachsende Bedürfnis nach mehr Spielraum setzte schließlich einen Abstraktionsprozess in Gang, der sie um die Jahrtausendwende weg vom Modell hin zu einer malerischen Neuinterpretation von industriell produziertem, unverarbeitetem Stoff mit geometrischem Dessin führte. Als mehr oder weniger neutrale Vorlage für frei konstruierte Bilder ist er bis heute das Ausgangsmaterial geblieben, wobei sich das Kriterium der Modellwahl von der textilen Beschaffenheit zum Dessin verlagert hat.
Bei der Wiedergabe des Stoffes tritt die textile Struktur in den Hintergrund, während die texturalen Grundstrukturen beim Bildaufbau genau beachtet sind: Auf eine mit Gesso grundierte und glatt geschliffene, auf Schichtholz geklebte Leinwand wird in mehreren Arbeitsvorgängen ein Gewebe aus abwechselnd vertikal und horizontal verlaufenden Farblasuren aufgetragen, um es anschließend mit einem geometrischen Muster von links nach rechts und von oben nach unten zu bezeichnen, wobei seine Verteilung mehr auf Augenmaß als auf exakter Messung beruht. Die orthogonale Bearbeitung des Bildgrunds unterstützt die Einordnung des Ornaments als ein textiles dabei auf so zurückhaltende Weise, dass sie eine unter mehreren Möglichkeiten bliebe, wären da nicht die Verschiebungen in der seriell gereihten Symmetrie des Dessins, die Falten simulieren und über diese Stoff. Sie werden erzeugt durch eine Schrägführung der ornamentalen Reihung, die nicht mehr parallel zu den Bildseiten verläuft, sondern zu einer Diagonalen, deren Ansatz und Winkel vorher festgelegt werden. Hierbei kommen ihr die früheren Studien der Berg- und Talfalten von Vorhängen zugute, die sie immer wieder auffrischt und vertieft mit Erfahrungen, die sie aus weiteren alltäglichen Beobachtungen wie die einer einseitig aufgezogenen Jalousie gewinnt. Entsprechend ist bei der Wahl ihrer Dessins, bei der sie sich von Musterbüchern für Stoffe inspirieren lässt, neben der rein ästhetischen Attraktion ein weiteres Kriterium, inwieweit sich die einzelnen Elemente so teilen lassen, dass der gewünschte Eindruck einer Faltung entsteht. Denn wie bei einem Kaleidoskop setzen sie sich an den entlang der Diagonalen entstandenen Schnittstellen neu zusammen und erzeugen dabei weitgehend dem Zufall zu verdankende formale wie rhythmische Veränderungen, die nur unter bestimmten Voraussetzungen ihren kognitiven Reiz entfalten.
Der Grad der optischen Irritation wiederum lässt sich über die Anzahl der Musterverschiebungen und die Beschaffenheit des Dessins beeinflussen. Dicht aneinandergereihte Muster bringen Farb- und Helldunkel-Kontraste stärker zur Geltung, jede Verschiebung erhöht mit dem Grad der Unordnung und Unruhe gewissermaßen die Lautstärke der Komposition. Eine einzige geringfügige Musterverschiebung in einem locker gestreuten Dessin dagegen nimmt das Auge eher als eine leise, kaum merkliche Vibration wahr. Es lassen sich noch weitere Analogien zur Musik finden, die über diese für die Malerei und insbesondere die Farbmalerei typischen hinausgehen. So sind Reihungen und zeitliche Sequenzverschiebungen beispielsweise in der amerikanischen Minimal Music, namentlich bei Steve Reich, von zentraler Bedeutung. Pierre Boulez wiederum ließ sich in seiner Pli selon Pli betitelten Vertonung von einem Gedicht und vier Sonetten Stephane Mallarmés von den syntaktischen Verschiebungen inspirieren, die der französische Dichter vornahm, um den Klang und den musikalischen Rhythmus der laut vorgetragenen Worte im Sinne einer Partitur herauszuarbeiten.i Für Mallarmé war die Falte, „die das Unendliche festhält, tausendfach verknüpft, jede dem Faden oder dessen verborgener Fortsetzung entlang ihr Geheimnis haltend,...“ii Hier wie auch in seiner Beschreibung der Seiten eines Buches als mit bedeutungsvollen Arabesken bestickte Faltungen bediente sich Mallarmé der textilen Metapher, in der sich einmal mehr zeigt, wie fundamental Literatur, Musik und bildende Kunst mit dem Textilen verbunden und von diesem geprägt sind.
In den Pli-Bildern von Barbara Rosengarth findet sich diese Vielschichtigkeit des Textilen thematisiert. Durch die Störung der ordnungs- und somit erwartungsgemäßen Wiederholung des Rapports werden die Qualitäten des Textilen und des Ornaments visuell erfahrbar. Die Schönheit der Farben und Muster ziehen den Blick auf sich und verführen durch die unerschöpflichen Variationsmöglichkeiten der Musterverschiebung zu genauerem Hinschauen. Das zentrale Ereignis aber ist die Falte, die dabei entsteht. Sie fügt dem Ornament als rationalem Prinzip Ordnung schaffender Wiederholungen nicht nur eine sinnliche Komponente hinzu, sondern macht Stoff in seiner eigentlichen Qualität als körperliche Umhüllung erfahrbar. Gleich einem Echoraum des unsichtbar Anwesenden, lässt sich die Falte denken als etwas Zwischenräumliches, das Erinnerungen wie die an die Bewegung eines Körpers speichert.
Damit entziehen sich die Plis der klaren Zuordnung zur konkreten Kunst, die trotz einer nicht unbeträchtlichen gemeinsamen Schnittmenge zu kurz greift. Das gilt gleichermaßen für die Optical Art, auch wenn sich Bridget Riley als eine ihrer Hauptvertreterinnen klassischer Karomuster wie Glencheck, Hahnentritt oder Pepita bediente, um optische Irritationen zu thematisieren. Ebenso begrenzt ist die Vergleichbarkeit mit konzeptuellen Ansätzen, wie sie beispielsweise Susanne Paeslers Bildern karierter Stoffe als Ausdruck eines radikal Dekorativen zugrunde liegen.
Die Plis ermöglichen vielmehr sehr unterschiedliche Betrachtungsweisen: die rationale, naturwissenschaftliche mag sich vor allem für das Muster und seine Verschiebung im Sinne von Ordnung und Chaos interessieren, die anthropologische und kunsthistorische für die Bezüge zur Kultur- und Kunstgeschichte des Textilen und des Ornaments. Der philosophische Blick könnte das Simulacrum einer Falte zum Anlass nehmen, über Gilles Deleuze’s Analyse der Leibniz’schen Monadologie nachzudenken, usw. Vermutlich werden sich die meisten am Nuancenreichtum der Malerei erfreuen oder über die unendlichen Variationsmöglichkeiten staunen, die sich durch eine Musterordnung und ihre Störung ergeben. Und vielleicht lassen sich manche von der Schönheit des Dessins dazu anregen, sich ein Kleidungsstück aus diesem Stoff auszudenken.
Welchen Gedankenfaden man auch immer verfolgt, in der Falte sind sie alle „tausendfach verknüpft“ (S. Mallarmé). Sie steigert, – ob als ein der Kontrolle entzogenes Geheimnisvolles, als Speicher von Erinnerung oder als Metapher für eine Vielzahl möglicher Welten -, den Genuss des Betrachtens zu einem der Reflektion.