Auf den ersten Blick meint man womöglich wahrzunehmen und zu wissen, dass man als Betrachterin oder Betrachter der Malereien von Barbara Rosengarth genau das sieht, was man von ihr zu sehen bekommt. Muster. Muster mal aus Quadraten, mal aus Quadraten mit Rahmen, mal aus Rauten oder Streifen, je in verschiedenen Farben innerhalb eines immerzu quadratischen, von Werk zu Werk die jeweilige Seitenlänge variierenden Formats.
Die Bilder der Künstlerin anzuschauen ist aber komplexer – wenn auf den ersten Blick ein zweiter, ein dritter und weitere Blicke folgen, dann verändert sich während der Wahrnehmung das Erleben der Malereien und intensiviert sich.
Pli 1806 beispielsweise wirkt in Fernsicht nahezu monochrom. Aus mittlerem Abstand lassen sich Streifen erkennen, überwiegend in rötlichen Tönen gehalten, hier zu Rosa und dort zu Orange tendierend; bestimmte schmale Streifen kippen, je nachdem, ob man einen Schritt vor oder einen zurück geht, mal ins Bläuliche und mal ins Grünliche. In Nahsicht wirken die Streifen fast für sich, sprich in ihrer jeweiligen Breite und Farbe.
Zugleich zeigt sich spätestens in Nahsicht aber auch, dass die meisten Streifen in ihrer jeweiligen Ausrichtung gewisse Winkelgrade von der Vertikalen abweichen, also nicht Parallelen zu den Bildkanten links und rechts sind. So gibt es Verwerfungen zwischen den Streifenbündeln. Innerhalb jedes Bündels fügen sich die Streifen zu einer Choreografie des parallelen Miteinanders, von Bündel zu Bündel zu einer des Gegeneinanders. Ein Streifenrhythmus trifft auf einen schrägen anderen. An den Orten ihres Zusammentreffens entsteht eine Kontragerade.
In der Ultranahsicht bieten sich das Malmaterial und die Indizien des Malprozesses dar. Unter der Firnisschicht enträtselt man die Archäologie der Farbschichten, das Grundieren, Schleifen und Abkleben, das Auftragen der Farben per Pinsel. Die Wahl dieses Werkzeugs, die subtilen subjektiven Spuren des Auftrags, der Nesselstoff und das Holz deuten darauf hin, dass Barbara Rosengarth Malerei auch als Handwerk versteht.
Pli 1806 ist – wie die anderen Pli-Arbeiten – ein Exemplar der reinen Malerei, der peinture pure, auch wenn jemand „Pli“ als „Falte“ übersetzt und so das Bild als Abbild einer Stoffdraperie deutet oder jemand anderes es allein als Testfall für die Wahrnehmungsphysiologie des Menschen wertet.
Die Pli-Malereien lassen sich mit Preziosen vergleichen: mit geschliffenen, reinen, farbig funkelnden Steinen. Der Vergleich gilt insbesondere auch für das bessere Verständnis der peinture pure. Preziosen haben Reize, auch ohne Abbilder von etwas zu sein. Sie haben Werte, die sich nicht auf optische Effekte reduzieren lassen. Und sie sollten weniger im Nu sondern besser wieder und wieder in ihren mannigfaltigen Facetten wahrgenommen werden.
Frank Laukötter